Archiv der Kategorie: Tacheles

Sport ist Mord

Wer unsportlich ist oder zu faul, sich körperlich fit zu halten, liebt ihn, den Spruch „Sport ist Mord“. Und wann immer im Sport schwere Unfälle passieren, sei es beim Skirennen oder am Berg mit dem Mountainbike, rezitieren ihn die ewig Unsportlichen genüsslich. Nicht aber, wenn jemand erschossen wird – nota bene.

Im Streit um die Waffeninitiative erhält nun der Spruch eine komplett neue Bedeutung. Wenn Schiessen als Sport bezeichnet wird, ist der Schiesssport das beste Beispiel dafür, dass Sport tatsächlich Mord (oder Selbstmord) sein kann. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma: Schiessen ist KEIN Sport. Der Einsatz von Schusswaffen dient schlicht dem Töten und Verletzen eines Opfers – oder der Drohung damit. Dumm nur, dass dann die besten Argumente der Initiativgegner nichts mehr taugen. Denn die Waffennarren bestehen ja darauf, Schiessen als Sport zu betrachten. Also doch: Sport ist Mord.

Werbung

Ihr Kinderlein kommet

„Luca Kevin Noah wünscht euch ein gutes Neues Jahr!“ steht auf der Karte. Abgebildet ist ein mir unbekanntes Baby mit einem noch etwas unförmigem Kopf – so wie Babys halt aussehen. Aber ich muss von Anfang an erzählen…

Ich bin gerade daran, auf dem Bücherregal etwas Ordnung zu schaffen. Dazu gehört auch das Entsorgen der Weihnachts- und Neujahrskarten. Diesmal scheint etwas schief gelaufen zu sein, global. Nicht nur aus der Schweiz, sondern auch aus England, Deutschland, Kanada und den USA haben wir mehrere Karten von Babys erhalten. Mit viel Geduld und etwas Glück haben wir jeweils herausgefunden, wer dahintersteckt, nämlich die Eltern: Zum Beispiel unsere langjährigen Freunde, nennen wir sie John und Maribelle. Was wir nicht klären konnten: Warum um alles in der Welt missbrauchen Eltern ihren über alles geliebten Nachwuchs so unverschämt für Weihnachts- und Neujahrskärtchen an Menschen, die sie – die Neugeborenen – noch nie gesehen haben, gar nicht kennen können? Und warum bekommen wir keine Kärtchen mehr von unseren langjährigen Freunden selber? Nun gut, da wir keine Kinder haben (wollen), müssen wir uns fürs nächste Neujahr etwas einfallen lassen, um mitzuhalten. Vielleicht könnten wir eine Karte verschicken, auf der unsere winterharte Balkon-Agave alles Gute wünscht, oder viele Grüsse von unserem Auto. Oder könnte es der neue Laptop richten, oder der neue iPad? Ja, das ist gut, ich glaube, wir nehmen den iPad.

Abgestimmt auf das falsche Herz der Schweiz

Der innerschweizer Kanton Schwyz hat abgestimmt. Und wie! In keinem andern Kanton ist die SVP-Ausschaffungsinitiative so deutlich angenommen und die SP-Steuergerechtigkeitsinitiative so deutlich  abgelehnt worden. Das Abstimmungsergebnis bringt auf den Punkt, was das Steuerparadies im Herzen der Schweiz will – und was nicht: Reiche sind willkommen, auch kriminelle Schweizer dürfen bleiben, aber keinesfalls Ausländer, die etwas ausgefressen haben. Das Tragische aber ist, dass die ganze Schweiz mehrheitlich wie der Kanton Schwyz abgestimmt hat. Es ist der Wunschtraum, selber dazu zu gehören. Es ist ein unglaublicher Akt der Solidarität mit den Einheimischen und Wohlhabenden, eine Absegnung der Verteilung von unten nach oben durchs Volk, ein demokratischer Entscheid, der gegen die eigenen Interessen der Mehrheit gerichtet ist. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich in Schwyz bald separatistisches Gedankengut breit machen würde. Eine kleine, unabhängige, heile Schweizschweiz im Herzen der grossen, realen Schweiz, ein Paradies für Rosinenpicker, die das nötige Kleingeld haben, um sich im Reichen-Ghetto eine Wohnung zu leisten. Dann müssten die armen Schwyzer auch nicht mehr alljährlich den lästigen Obulus in den Steuerausgleich entrichten. Und nach Zürich in die Oper oder ins Kaufleuten zum Dinieren könnte man ja nach wie vor.

Nokia meets Bach in Appenzellerland

aus dem Workshop zu BWV 109 (coro)

Die Kantate BWV 109 hat es in sich. Johann Sebastian Bach stellte an Musiker und Publikum hohe Anforderungen, als er das Werk am 17. Oktober 1723 in Leipzig erstmals aufführte. Fast auf den Tag genau 287 Jahre später wiederholt sich die Szene im Appenzellischen Trogen. Nur, dass hier Nokia dazwischen funkt. Die kleine, simple Melodie des Handyherstellers bot in der Evangelischen Kirche einen krassen und absolut unerwünschten Kontrast zu den virtuosen Partituren des barocken Altmeisters.

Nokia-Melodie

Aber der Dirigent und musikalische Leiter des Abends, Rudolf Lutz,  lässt sich im Workshop vor dem Konzert durch das kleine Intermezzo nicht aus der Fassung bringen: Er baut die Nokia-Melodie gekonnt in seinen Vortrag ein, improvisiert dazu auf dem Keyboard und stellt mit gewitzten Sprüchen die betreffenden Handybesitzer an den Pranger. Frech, aber nicht plump. Bestimmt, aber mit einem Augenzwinkern. Ich bin überzeugt, dass es Bach genau so gemacht hätte. So viel habe ich an diesem Abend über den Komponisten dazugelernt.

P.S.: Bei der Nokia-Szene habe ich genau so herzhaft gelacht wie der Mann, der alles möglicht macht: Wegelin-Bankier Konrad Hummler. Der Bach-Fan will mit seiner J.S. Bach-Stiftung in den nächsten 20 Jahren sämtliche 250 Kantaten des Meisters zur Aufführung bringen. Das lässt er sich 30 Millionen Franken kosten.

Der Blick am Morgen in den Blick am Abend

Als Journalist, der für eine richtige, echte Zeitung schreibt, kann ich es kaum fassen: Da schleppen sich am Morgen müde Geister auf die S-Bahn, um zur Arbeit zu fahren. Und sie schnappen sich einen Blick am Abend – vom Vorabend, und sie LESEN ihn. Zumindest tun sie so. Mehr noch: Sie starren in die Postille, als ob sie darin die letzten Weisheiten der Menschheit finden würden, als ob sie den Durchblick hätten. Wahrscheinlich hatten die gleichen müden Geister den gleichen Blick am Abend schon am Vorabend in der Hand, beziehungsweise vor den Augen. Wahrscheinlich hat er ihnen schon damals den Blick auf die Welt versperrt. Aber sie merken es nicht.

Wenn die müden Geister Glück haben, ist am Morgen noch ein 20-Minuten-Heftchen vom aktuellen Tag in der Box. Dann versinkt darin der trübe Blick, was weniger peinlich ist, aber nicht wirklich einen Unterschied macht. Ob Blick am Abend von gestern oder 20 Minuten von vorgestern: es ist einerlei. Hauptsache, die Augen können sich ausruhen. Sonst würden sie ja sehen, dass ein anderer müder Geist in der übervollen S-Bahn gern den Platz nebenan hätte – wo jetzt der eigene Rucksack liegt.

Unsinnige Kommerzgrüsse zum Geburtstag

Kürzlich hatte ich Geburtstag und freute mich wie immer über die guten Wünsche aus dem Freundeskreis. Nun erhalte ich aber jährlich mehr und mehr Gratulationen von wildfremden Menschen, die mir im Auftrag eines Unternehmens schreiben (müssen): Da waren unter anderem ein SMS von meinem Handy-Provider Sunrise, eine Email eines Hotels in Luzern, ein Brief des Spielcasinos Pfäffikon und eine Email von meinem Vielfliegerprogramm Miles & More.

Immerhin: Das Spielcasino schickte mir einen Gutschein für Jetons im Wert von 25 Franken. Und von Miles & More erhielt ich 3000 Meilen geschenkt – zum Einlösen im Swiss-Online-Shop. Aber was gibts dafür? Eigentlich gar nichts! So bestätigt sich auch hier der Verdacht, dass letztlich schnöde kommerzielle Interessen hinter den sülzigen Grüssen stecken. Den Vogel abgeschossen hat aber das (angebliche 5-Sterne-Hotel) Ferienart Resort & Spa in Saas Fee, wo ich einmal als geladener Gast meines Autohändlers ein Wochenende verbrachte. Das Zimmer war miserabel, und ich hatte mich auch entsprechend beklagt. Nun schickt mir diese Luxusherberge, bei der leider nur der Preis Luxus ist, Jahr für Jahr eine – von Hand geschriebene! – Ansichtkarte. Mein Tipp: Steckt doch die Zeit, die Energie und das Geld lieber in die Renovation der Gästezimmer.

Ein Abzocker ist ein Abzocker ist ein …

Abzocker-Jäger Thomas Minder, der Vater der „Abzocker-Initiative “ und Trybol-Fabrikant in Neuhausen, hat den ehemaligen Chef von OC Oerlikon Thomas Limberger aufgeschreckt, indem er ihn wiederholt „Abzocker“ nannte. Limberger hatte mehrere Millionen Salär eingesackt, während OC Oerlikon kurz darauf finanziell am Abgrund stand. Inzwischen ist Limberger Chef bei Von Roll, wo er letztes Jahr „nur“ noch 2,5 Millionen kassierte, während er im Unternehmen 11 Millionen Verlust machte und 500 Stellen strich.

Wann darf man einen Abzocker öffentlich einen Abzocker nennen, statt nur einen unverschämten Grossverdiener? Das ist die Frage, die jetzt ein Richter beantworten muss. Denn Limberger hat gegen Minder geklagt – wegen Rufschädigung und Persönlichkeitsverletzung. Nun heisst es Thomas gegen Thomas. Bloss: Zur ersten Verhandlungsrunde ist Limberger gar nicht erst erschienen. Minder vermutet, sein Kontrahent scheue die öffentliche Auseinandersetzung. Und bezeichnet ihn seelenruhig weiterhin als Abzocker.

PS: Aus dem Wörterbuch:  „ạb•zo•cken (hat) [Vt] jemanden abzocken gespr; beim Kartenspiel od. bei einem Geschäft viel Geld von jemandem gewinnen.“ Oder an anderer Stelle: „Der Begriff Abzocke ist ein umgangssprachlicher Begriff für Übervorteilung.“ Oder auch: „Steht die bezogene Dienstleistung in keinem Verhältnis zum dafür gezahlten Preis und wurde vorher auch nicht angemessen auf die Kosten hingewiesen (Übervorteilung des Anbieters), entsteht der Vorwurf der Abzocke.“ Na also, jetzt kann doch der Richter Tacheles reden – mit den Abzockern.

Raubtier-Kapitalismus

„Der Fidel, mein Freund“, liess der UNO-Berater und frühere Genfer SP-Nationalrat Jean Ziegler im Gespräch oft und gern einfliessen, um seine weltweite Vernetztheit zu unterstreichen – inklusive mit Castros Kuba. In seinem neusten Buch „Der Hass auf den Westen“ geisselt der linke Soziologe einmal mehr in eloquenter und rhetorisch wie inhaltlich beeindruckender Weise die westliche Welt als Urheberin allen Übels in den Ländern des Südens und überhaupt in der Dritten Welt. Während er früher regelmässig die gierigen Banker ins Visier nahm und sie des Casino-Kapitalismus bezichtigte, beschreibt er nun den Raubtier-Kapitalismus Europas der vergangenen 500 Jahre.

Und er warnt vor der Zukunft: Das „verwundete Gedächtnis“ des Südens an die Demütigungen in Jahrhunderten des Sklavenhandels und der Kolonialisierung sei wiedererwacht. Daher auch der Untertitel: „Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren.“ Sein Buch ist somit nicht nur ein „Look back in Anger“ (Schauspiel des britischen Dramatikers John Osborne von 1956), sondern auch – und viel mehr – ein „Blick nach vorn im Zorn“. Und ein Happy-End ist – anders als in Osbornes Stück – nicht zu erwarten. Brilliant. Sogar die NZZ räumt ein, dass trotz „Weltretter-Pathos, Schwarzweiss-Malerlei und knalligem Stil bis zur Ungenauigkeit“ nur wenige behaupten würden, Ziegler habe im Grundsatz nicht oftmals recht.